Die Megatrends Fachkräftemangel, demografischer Wandel, Dekarbonisierung und Digitalisierung führen zu tiefgreifenden Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft. An diesen Veränderungen kann aber nur teilhaben, wer ausreichend lesen, schreiben und rechnen kann, genügend Sprachkenntnisse besitzt und zudem eine digitale Grundbildung verfügt. Das Kultusministerium hat deshalb in der Alphabetisierung und Grundbildung einen Schwerpunkt auf die arbeitsorientierte Grundbildung gesetzt und wendet sich dabei an zwei Zielgruppen: Erwerbstätige, die in der Wirtschaft als Geringqualifizierte ohne Berufsausbildung und oft in Helferjobs arbeiten sowie Erwerbslose in Betreuung der Jobcenter. Entsprechend wird eine Kooperation der Weiterbildungsträger mit Unternehmen und der Arbeitsverwaltung gefördert.
Eine neue Handreichung der Fachstelle für Grundbildung und Alphabetisierung Baden-Württemberg informiert über die Potenziale der arbeitsorientierten Grundbildung: „Potenziale entfalten, Fachkräfte heranbilden“. Neben erfolgreichen Praxisbeispielen, etwa zur Einbeziehung der Volkshochschulen, wird das Thema aus wissenschaftlicher Perspektive beleuchtet und auch auf finanzielle Anreize hin analysiert.
Die Auswirkungen einer nicht ausreichenden Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener betreffen Gesellschaft und Wirtschaft in starkem Ausmaß. Die Universität Hamburg geht in ihrer zweiten Level One-Studie 2018 davon aus, dass 6,2 Millionen Erwachsene in Deutschland betroffen sind. Muttersprachler überwiegen mit einem Anteil von 53 Prozent. Statistisch umgerechnet auf Baden-Württemberg ergibt sich daraus eine Zahl von rund 750.000 Menschen im erwerbsfähigen Alter zwischen 18 und 64 Jahren mit Schwierigkeiten beim Lesen, Schreiben und Rechnen.
Die Folgen können gravierend sein: Oftmals drohen Arbeitslosigkeit und Armut. Die Probleme werden durch die Digitalisierung verstärkt, da Betroffene in Wirtschaft und Gesellschaft noch stärker abgehängt werden können. Doch es gibt viele Beispiele von Menschen, die sich diesen Problemen in Kursen gestellt und daraufhin neue Chancen erhalten haben.
Die Grundbildung nimmt Bereiche des gesellschaftlichen Lebens in den Blick, die für die gesellschaftliche, ökonomische und kulturelle Teilhabe von Menschen wichtig sind. Dies entspricht auch der Nationalen Dekade für Alphabetisierung und Grundbildung, die von Bund und Ländern für 2016 bis 2026 ausgerufen worden ist (s.u.). Das „Grundsatzpapier der Nationalen Dekade 2016-2026“ versteht unter Grundbildung ausreichende Fähigkeiten im Rechnen sowie weitere Grundkompetenzen in Bereichen wie Digitales, Gesundheit, Haushalt (Finanzen), Soziales und Demokratiebildung. Die Beherrschung der deutschen Sprache kommt hinzu. Grundbildung orientiert sich somit an der Anwendungspraxis und -notwendigkeit von Schriftsprachlichkeit im beruflichen und gesellschaftlichen Alltag.
Das Ziel der Alphabetisierung und Grundbildung ist, möglichst viele Erwachsene mit einer zu geringen Grundbildung und unzureichenden Fähigkeiten im Lesen, Schreiben und Rechnen zu erreichen. Durch niederschwellige und zielgerichtete Angebote sollen sie motiviert werden, an Kursen teilzunehmen. Dies ermöglicht eine stärkere gesellschaftliche und politische Teilhabe und führt zu mehr Selbstwirksamkeit und Empowerment.
Hinzu kommen bessere Chancen am Arbeitsplatz, verbunden mit einem Aufstieg zur Fachkraft. Dabei werden sowohl Erwerbstätige in den Unternehmen als auch Arbeitslose angesprochen, um ihre Kenntnisse in der Grundbildung zu verbessern. Voraussetzung dafür ist die Zusammenarbeit mit der Wirtschaft sowie der Arbeitsverwaltung. Darüber hinaus verbessert eine digitale Grundbildung auch die Chancen gering literalisierter Erwachsener in der digitalen Transformation. Das Kultusministerium hat deshalb im Rahmen der Weiterbildungsinitiative WEITER.mit.BILDUNG@BW bei den Grundbildungszentren sowie Kursen ein dreiteiliges Vorhaben gefördert. Zum einen wurde eine digitale Ausstattung finanziert. Zum zweiten steht für die Lernangebote die digitale Plattform DIGIAlpha zur Verfügung. Und zum dritten erhalten die Kursleitenden entsprechende Fortbildungen, um eine digitale Didaktik im Unterricht und DIGIAlpha umsetzen zu können.
Der Landesstrategie, in der neben den wissenschaftlichen Grundlagen vor allem die Zielgruppen, die Handlungsfelder in der Grundbildung sowie mögliche Vorhaben geschildert werden, wurde dem Ministerrat am 2. März 2021 vorgelegt. Einbezogen sind: das Ministerium für Kultus, Jugend und Sport (Federführung) sowie folgende Ministerien: Soziales, Gesundheit und Integration; Wirtschaft, Arbeit und Tourismus; Wissenschaft, Forschung und Kunst; Ernährung, Ländlicher Raum und Verbraucherschutz.
Hauptbestandteil der Landesstrategie ist der Landesbeirat für Alphabetisierung und Grundbildung Baden-Württemberg, der aktuell 33 Verbände und Einrichtungen vernetzt sind.
Das 2021 eingeführte Alpha-Siegel wurde vom Grundbildungszentrum Berlin entwickelt und in Zusammenarbeit mit der Fachstelle für Grundbildung und Alphabetisierung Baden-Württemberg im Land eingeführt. Das Siegel attestiert seinen Trägern nach Erfüllung bestimmter Kriterien sich auf die Bedürfnisse von Menschen mit Schwierigkeiten im Lesen und Schreiben eingestellt, die Mitarbeitenden geschult und die Wegweiser vor Ort und auf der Homepage entsprechend gestaltet zu haben.
Bis 2024 fördert das Land in einer ersten Phase acht neue Grundbildungszentren über Mittel des Europäischen Sozialfonds (ESF) in Höhe von zunächst rund 2 Millionen Euro sowie mit 600.000 Euro an Landesmitteln. Insgesamt stehen bis 2027 für die ESF-Förderung der Alphabetisierung und Grundbildung 4,5 Millionen Euro zur Verfügung. Das neue Landesprogramm im Rahmen der ESF-Förderung von 2025 bis 2027 umfasst acht GBZ: Mannheim (Abendakademie), Rastatt (Effektiv-Bildung I.S. GmbH), Offenburg (VHS), Stuttgart (VHS), Ulm (Institut fakt.ori), Ludwigsburg (Sprachschule Deutsch-richtig), Karlsruhe (VHS) und Schwäbisch Gmünd (VHS). Die Grundbildungszentren in Ludwigsburg und Karlsruhe sind neu dabei.
Grundbildungszentren sprechen Betroffene vor Ort durch niedrigschwellige Lernangebote wie offene Lerncafés an und bilden sie weiter. Sie bauen zudem Netzwerke mit Einrichtungen auf, die direkten Zugang zu Menschen mit Lese- und Schreibschwierigkeiten haben, etwa Bibliotheken, Jobcenter, Unternehmen oder Tafelläden, um gezielt Unterstützung anzubieten.
Ein Schwerpunkt des Landesprogramms ist die digitale Grundbildung, für die im Rahmen der ressortübergreifenden Weiterbildungsinitiative WEITER.mit.BILDUNG@BW bis 2025 eine Million Euro bereitsteht. Im Rahmen des Programms wurde die Plattform DIGIAlpha mit hybriden Lehr- und Lernprogrammen entwickeln, die kosteinfrei verfügbar ist. Zusätzlich bietet die Fachstelle für Grundbildung Baden-Württemberg Fortbildungen für Kursleitungen zum Themenbereich Digitalisierung an.
Seit 2016 ist die Fachstelle für Grundbildung und Alphabetisierung Baden-Württemberg Bestandteil des Landesprogramms, finanziert durch den Europäischen Sozialfonds und Landesmittel. Sie wird von der gemeinnützigen Technischen Akademie für Berufliche Bildung Schwäbisch Gmünd getragen und ist dem Kultusministerium fachlich zugeordnet. Die Fachstelle koordiniert die Grundbildungs- und Alphabetisierungsarbeit für Erwachsene in Baden-Württemberg und ist Anlaufstelle für Lernende, Weiterbildungsanbieter, Verbände, Institutionen und Betriebe. Zudem hat die Fachstelle ein umfassendes Fortbildungsangebot erstellt, das allen Lehrkräften in der Alphabetisierung und Grundbildung offensteht.
Das Kultusministerium setzt das Projekt „Bildungsjahr für erwachsene Flüchtlinge ohne oder mit geringen Sprach- und Schreibkenntnissen“ (BEF Alpha) um, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmen der Bildungsketten-Vereinbarung zwischen dem Bund und dem Land Baden-Württemberg finanziert wird. Das Projekt startete 2016 mit zwölf Standorten und umfasst mittlerweile rund 35 Kurse. Zielgruppe sind geflüchtete Erwachsene, vor allem Frauen im Alter von 25 bis 35 Jahren mit Kindern bis vier Jahren. Zusätzlich wird bei den Kursen in der Regel eine Kinderbetreuung angeboten, um den Müttern eine Kursteilnahme zu ermöglichen. Die Kurse beinhalten 35 Wochen Unterricht und 5 Wochen Praktikum und decken Themen wie Alphabetisierung, Sprachförderung, Berufsorientierung, digitale Grundbildung und Demokratiebildung ab.
Eine wissenschaftliche Evaluation der Pädagogischen Hochschule Weingarten bestätigt, dass BEF Alpha durch die Kombination von Sprach- und Berufsorientierung zu einer besseren Integration und einem Lernerfolg beiträgt. Fast 90 Prozent der Teilnehmenden verbesserten ihre Sprachkenntnisse um eine Niveaustufe. Positive Rückmeldungen von Unternehmen und Arbeitsagenturen bestätigen den Erfolg des Projekts. Die UNESCO hat das Konzept von BEF Alpha als Beispiel für die Erwachsenenbildung von Geflüchteten veröffentlicht.
Broschüre „BEF Alpha oder: Wie Integration gelingen kann“ (PDF)
Das Landesprogramm Baden-Württemberg ist Bestandteil der Nationalen Dekade für Alphabetisierung und Grundbildung, die von Bund, Ländern und Partnern für den Zeitraum 2016 bis 2026 ausgerufen worden ist. Ziel ist, die Lese- und Schreibfähigkeiten Erwachsener in Deutschland deutlich zu verbessern. Zentraler Erfolgsfaktor: mehr Grundbildungsangebote und mehr Menschen, die diese Angebote wahrnehmen. Die Frage, wie Erwachsene mit niedrigen Schriftsprachkompetenzen erreicht und zum Lernen aktiviert werden können, ist die zentrale Herausforderung aller Maßnahmen.
Nach der im Dezember 2024 erschienene PIAAC-Studie der OECD, die unter dem Begriff „Pisa für Erwachsene“ bekannt geworden ist, beträgt der Anteil gering literalisierter Erwachsener in Deutschland an der Gesamtbevölkerung 20 Prozent. Dieser Anteil ist demnach innerhalb von zehn Jahren um drei Prozentpunkte gestiegen.