Das Kultusministerium setzt in der Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener ab 2023/24 einen Schwerpunkt auf die arbeitsorientierte Grundbildung mit dem Ziel, geringer qualifizierten Beschäftigten Aufstiegschancen zur Fachkraft zu vermitteln. Dabei wird auch die Förderung der digitalen Grundbildung im Rahmen der ressortübergreifenden Initiative WEITER.mit.BILDUNG@BW ausgebaut.
Ausschreibung Grundbildungszentren
Das Ministerium für Kultus, Jugend und Sport sowie das Ministerium für Soziales, Gesundheit und Integration Baden-Württemberg rufen dazu auf, für die Förderperiode 2021 bis 2027 auf die Förderperiode „Ag KM Alphabetisierung und Grundbildung – KM Alpha ESF+“ zentrale Projektanträge im Förderbereich Arbeit und Soziales einzureichen. Spezifisches Ziel ist die Förderung des lebenslangen Lernens, insbesondere von flexiblen Möglichkeiten für Weiterbildung und Umschulung für alle unter Berücksichtigung unternehmerischer und digitaler Kompetenzen, bessere Antizipation von Veränderungen und neuen Kompetenzanforderungen auf der Grundlage der Bedürfnisse des Arbeitsmarkts, Erleichterung beruflicher Übergänge und Förderung der beruflichen Mobilität. Antragsfrist: 15. Juli 2024.
Die Auswirkungen einer nicht ausreichenden Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener betreffen Gesellschaft und Wirtschaft in starkem Ausmaß. Die Universität Hamburg hat in ihrer zweiten Level One-Studie 2018/19 festgestellt, dass 6,2 Millionen betroffenen Erwachsenen in Deutschland aus. Muttersprachler überwiegen mit einem Anteil von 53 Prozent. Statistisch umgerechnet auf Baden-Württemberg ergibt sich daraus eine Zahl von rund 750.000 Menschen im erwerbsfähigen Alter zwischen 18 und 64 Jahren mit Schwierigkeiten beim Lesen, Schreiben und Rechnen.
Die Folgen können gravierend sein: Oftmals drohen Arbeitslosigkeit und Armut. Die Gefahr, dass Eltern eine solche Schwäche an die Kinder weitergeben, ist groß. Die Probleme werden durch die Digitalisierung verstärkt, da Betroffene in Wirtschaft und Gesellschaft noch stärker abgehängt werden könnten. Doch es gibt viele Beispiele von Menschen, die sich diesen Problemen in Kursen gestellt und dann in ihrer Familie, in Vereinen und am Arbeitsplatz neue Chancen erhalten haben.
Die Grundbildung nimmt Bereiche des gesellschaftlichen Lebens in den Blick, die für die kulturelle und gesellschaftliche Teilhabe von Menschen wichtig sind. Dies entspricht auch der Nationalen Dekade für Alphabetisierung und Grundbildung, die von Bund und Ländern für 2016 bis 2026 ausgerufen worden ist (s.u.). Das „Grundsatzpapier der Nationalen Dekade 2016-2026“ versteht unter Grundbildung ausreichende Fähigkeiten im Rechnen sowie weitere Grundkompetenzen in Bereichen wie Digitales, Gesundheit, Haushalt (Finanzen), Soziales und Demokratiebildung. Die Beherrschung der deutschen Sprache kommt hinzu. Grundbildung orientiert sich somit an der Anwendungspraxis und -notwendigkeit von Schriftsprachlichkeit im beruflichen und gesellschaftlichen Alltag.
Das Ziel der Alphabetisierung und Grundbildung ist, möglichst viele Erwachsene mit einer zu geringen Grundbildung und unzureichenden Fähigkeiten im Lesen, Schreiben und Rechnen zu erreichen. Sie sollen durch passgenaue Angebote möglichst niederschwellig und zielgerichtet in ihrer jeweiligen Umgebung angesprochen und für eine Teilnahme an Kursen motiviert werden. Durch eine solche Teilnahme ist eine größere Beteiligung am gesellschaftlichen und politischen Leben ebenso möglich wie ein gesünderes Leben mit einer höheren Zufriedenheit, mehr Selbstständigkeit und Selbstbewusstsein.
Hinzu kommen bessere Chancen am Arbeitsplatz, verbunden mit einem Aufstieg zur Fachkraft. Dabei werden sowohl Erwerbstätige in den Unternehmen ebenso wie Arbeitslose angesprochen, um ihre Kenntnisse in der Grundbildung zu verbessern. Voraussetzung dafür ist die Zusammenarbeit mit der Wirtschaft einerseits sowie mit der Arbeitsverwaltung und insbesondere den Jobcentern andererseits.
Der Landesstrategie, in der neben den wissenschaftlichen Grundlagen vor allem die Zielgruppen, die Handlungsfelder in der Grundbildung sowie mögliche Vorhaben geschildert werden, wurde dem Ministerrat am 2. März 2021 vorgelegt. Einbezogen sind: das Ministerium für Kultus, Jugend und Sport (Federführung) sowie folgende Ministerien: Soziales, Gesundheit und Integration; Wirtschaft, Arbeit und Tourismus; Wissenschaft, Forschung und Kunst; Ernährung, Ländlicher Raum und Verbraucherschutz.
Hauptbestandteil der Landesstrategie ist der Landesbeirat für Alphabetisierung und Grundbildung Baden-Württemberg, der derzeit 33 Verbände und Einrichtungen umfasst. In der Jahressitzung stellt das Kultusministerium dem Landesbeirat die aktuellen Entwicklungen vor und diskutiert das weitere Vorgehen. Darüber hinaus verleiht Staatssekretär Volker Schebesta MdL in der Sitzung auch die aktuellen Alpha-Siegel (s.u.) an die neuen Träger. 2023 wurden sieben Träger neu ausgezeichnet.
Das 2021 eingeführte Alpha-Siegel wurde vom Grundbildungszentrum Berlin entwickelt und in Zusammenarbeit mit der Fachstelle für Grundbildung und Alphabetisierung Baden-Württemberg im Land eingeführt. Das Siegel attestiert seinen Trägern nach Erfüllung bestimmter Kriterien sich auf die Bedürfnisse von Menschen mit Schwierigkeiten im Lesen und Schreiben eingestellt, die Mitarbeitenden geschult und die Wegweiser vor Ort und auf der Homepage entsprechend gestaltet zu haben. Erste Trägerin des Alpha-Siegels im Land ist die Volkshochschule Schwäbisch Gmünd, gefolgt von der Abendakademie Mannheim als eine der größten VHS im Land.
Bis 2024 fördert das Land in einer ersten Phase acht neue Grundbildungszentren über Mittel des Europäischen Sozialfonds (ESF) in Höhe von zunächst rund 2 Millionen Euro sowie mit 600.000 Euro an Landesmitteln. Insgesamt stehen bis 2027 für die ESF-Förderung der Alphabetisierung und Grundbildung 4,5 Millionen Euro zur Verfügung. Das neue Landesprogramm im Rahmen der ESF-Förderung von 2022 bis 2024 umfasst acht GBZ: Mannheim (Abendakademie), Rastatt (Effektiv-Bildung I.S. GmbH), Offenburg (VHS), Freiburg (VHS), Stuttgart (VHS), Ulm (Institut fakt.ori), Freudenstadt (VHS) und Schwäbisch Gmünd (VHS). Die Grundbildungszentren in Stuttgart, Rastatt und Schwäbisch Gmünd sind neu dabei.
Die Grundbildungszentren haben vor Ort zum einen die Aufgabe, Betroffene mit Lernangeboten etwa mit Lernzentren in Stadtteilen besonders niederschwellig anzusprechen und sie in Kursen weiterzubilden. Zum anderen errichten sie Netzwerke und Kooperationen mit Einrichtungen, die direkten Zugang zu Menschen mit Lese- und Schreibschwierigkeiten haben. Angesprochen werden dabei im Sinne von aufsuchender Bildungsarbeit sowohl Stadtbibliotheken, Arbeitsagenturen und Jobcenter wie auch Unternehmen, Tafelläden und andere Orte, an denen Menschen mit Grundbildungsbedarf geholfen werden kann.
Ein Schwerpunkt des Landesprogramms ist die digitale Grundbildung. Bis 2024 steht dafür eine Million Euro im Rahmen der ressortübergreifenden Weiterbildungsinitiative WEITER.mit.BILDUNG@BW bereit, um die Arbeit der Grundbildungszentren im digitalen Bereich umfassend zu fördern. Prof. Dr. Josef Schrader, Wissenschaftlicher Direktor des Deutschen Instituts für Erwachsenenbildung (DIE), betont in diesem Zusammenhang die Bedeutung, richtig schreiben und lesen zu können: „Es wird immer wichtiger, schriftlich zu kommunizieren und Texte auch digital zu verstehen. Die Transformation zum Digitalen führt im Privat- und Berufsleben dazu, dass die Bedeutung, das Schreiben und Lesen zu beherrschen noch einmal erheblich zunimmt. Und ohne eine digitale Grundbildung geht es künftig kaum mehr.“
Im Rahmen des Programms entwickelte das Forschungsinstitut für berufliche Bildung Nürnberg die Plattform DIGIAlpha mit hybriden Lehr- und Lernprogrammen, die Nutzern und insbesondere Kursleitenden kostenlos zur Verfügung steht. Dazu bietet dieFachstelle für Grundbildung und Alphabetisierung Baden-Württemberg Fort- und Weiterbildungen für die Kursleitungen an.
Bestandteil des Landesprogramms ist seit 2016 die Fachstelle für Grundbildung und Alphabetisierung Baden-Württemberg, die über den Europäischen Sozialfonds und mit Landesunterstützung finanziert wird. Trägerin der Fachstelle ist die gemeinnützige Technische Akademie für Berufliche Bildung Schwäbisch Gmünd.
Die Fachstelle ist fachlich dem Kultusministerium zugeordnet und koordiniert für Baden-Württemberg die Grundbildungs- und Alphabetisierungsarbeit für Erwachsene. Sie ist Ansprechpartnerin für Lernende, Weiterbildungsanbieter, Verbände/Institutionen und Betriebe mit Weiterbildungsbedarf und steht für alle Fragen rund um das Thema zur Verfügung. Dazu zählt auch die Fortbildung Kursleitender. Die Fachstelle bietet hierzu in Zusammenarbeit mit der Agentur für Erwachsenen- und Weiterbildung Niedersachsen Online-Fortbildungen an für Kursleitende und Planende in den Kursen zur Alphabetisierung und Grundbildung sowie für eine gelingende Grundbildungsarbeit.
Die Fachstelle arbeitet zudem auf nationaler und auf EU-Ebene mit, um Ergebnisse einem erweiterten Kreis von Akteuren zugänglich zu machen. Zudem hat die Landeszentrale für politische Bildung die Fachstelle in die Steuerungsgruppe zum Handlungsfeld "Politische Grundbildung marginalisierter/prekärer gesellschaftlicher Gruppen" berufen. Hier geht es darum, Menschen in benachteiligenden Lebenssituationen Wege in einschlägige Kurse zu ebnen.
Das Kultusministerium setzt in der Grundbildung das Projekt "Bildungsjahr für erwachsene Flüchtlinge ohne oder mit geringen Sprach- und Schreibkenntnissen" (BEF Alpha) konzeptionell und organisatorisch um, das im Rahmen der Bildungsketten-Vereinbarung mit dem Bund vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanziert wird. Das Projekt startete 2016 mit zwölf Standorten im Land und umfasst derzeit rund 35 Kurse bei Weiterbildungsträgern im Land.
Zielgruppe sind geflüchtete Erwachsene im Alter von in der Regel 25 bis 35 Jahren und in erster Linie Frauen mit Kinder bis vier Jahren. Durch das Angebot einer Kinderbetreuung ist es gelungen, den Anteil der Teilnehmerinnen an den Kursen auf rund 70 Prozent zu steigern. BEF Alpha-Kurse nehmen immer wieder Teilnehmende auf, die Integrationskurse abgebrochen haben. Die Konzeption umfasst den Unterricht an 35 Wochen plus fünf Wochen Praktikum in Unternehmen. Inhaltlich werden die drei Bereiche Alphabetisierung/Sprachförderung, Berufsorientierung/Digitale Grundbildung sowie Alltag/Demokratiebildung unterrichtet.
Nach der wissenschaftlichen Evaluation durch Dr. Ilka Koppel, PH Weingarten, kann BEF Alpha „durch die Verzahnung von Sprachenlernen und Berufsorientierung zu einem Lernerfolg und zu einer langfristigen Integration in den Arbeitsmarkt beitragen.“ Die Berufsorientierung ist dadurch ein wesentlicher Treiber der Integration und des Sprachenlernens. Knapp 90 Prozent der Teilnehmenden haben durch BEF Alpha ihre Sprachkenntnisse um eine Niveaustufe verbessert, einige sogar um zwei.
Rückmeldungen aus den Unternehmen auf die Praktika sowie durch die Nachfrage von Arbeitsagenturen und Jobcentern nach Kursen bestätigen diese positive Wirkung von BEF Alpha. Die UNESCO hat Konzeption und Ergebnisse von BEF Alpha als Beispiel der Erwachsenenbildung für Geflüchtete veröffentlicht.
Broschüre „BEF Alpha oder: Wie Integration gelingen kann“ (PDF)
Das Landesprogramm Baden-Württemberg ist Bestandteil der Nationalen Dekade für Alphabetisierung und Grundbildung, die von Bund, Ländern und Partnern für den Zeitraum 2016 bis 2026 ausgerufen worden ist. Sie wollen so die Lese- und Schreibfähigkeiten Erwachsener in Deutschland deutlich verbessern. Zentraler Erfolgsfaktor: mehr Grundbildungsangebote und mehr Menschen, die diese Angebote wahrnehmen. Die Frage, wie Erwachsene mit niedrigen Schriftsprachkompetenzen erreicht und zum Lernen aktiviert werden können, ist die zentrale Herausforderung aller Maßnahmen.
Das Kultusministerium beteiligt sich an der 2019 unter Federführung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung sowie des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales entstandenen Nationalen Weiterbildungsstrategie (NWS). Sie soll unter Mitarbeit der Sozialpartner vor allem Antworten auf den digitalen Wandel finden und für Chancengleichheit für alle Menschen in der Arbeitswelt sorgen. Wichtiger Bestandteil ist die digitale Grundbildung. Die NWS sieht einen besonderen Handlungsbedarf für formal geringer qualifizierte Menschen, von denen der Universität Hamburg zufolge rund 25 Prozent elementare Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben haben, sowie für Zuwandererinnen und Zuwanderer, die noch nicht über ausreichendes Sprachniveau verfügen. An Weiterbildungsstrukturen und -einrichtungen stellt diese Entwicklung verstärkt die Aufgabe, bei der Angebotsgestaltung noch stärker auf die individuellen Voraussetzungen einzugehen.