Der Großteil der Medaillen für Deutschland bei den Paralympics 2022 hatte baden-württembergischen Anstrich. Eine beeindruckende Leistung. Wir haben darüber und über die Zukunft des paralympischen Sports im Südwesten mit den beiden Präsidentinnen des württembergischen Behindertensportverbands, Jasmina Hostert, und badischen Behindertensportverbands, Dr. Anja Hirschmüller, gesprochen.
18 von 19 Medaillengewinne deutscher Athletinnen und Athleten bei den Paralympics 2022 in Peking tragen ein baden-württembergisches Etikett. Wie erklären Sie sich diese herausragende Position unseres Landes im Bundesvergleich?
Hirschmüller: In den letzten zehn Jahren wurden in unserem Land großartige Strukturen geschaffen, die eine erfolgreiche Nachwuchsarbeit im paralympischen Wintersport ermöglichen – insbesondere in Freiburg und Isny. In Freiburg profitieren die Athletinnen und Athleten von der Anbindung an den Olympiastützpunkt. Sie trainieren dort gleichberechtigt mit Olympiaathleten und nutzen die behindertengerechte Infrastruktur. Unter anderem wurde vor einigen Jahren ein großes Laufband angeschafft, welches für Rollstuhlfahrer geeignet ist und Simulationstraining von Wettkampfstrecken erlaubt. Darüber hinaus unterstützen die Stadt Freiburg und der Landessportbund die duale Karriere von Nachwuchsathletinnen und -athleten. Erfreulicherweise hat der Para Sport beim Landessportbund eine gleichwertige Stellung wie der olympische Sport. So wurden unter anderem in den letzten Jahren mehrere hauptamtliche Trainerstellen geschaffen. Nicht zuletzt ist Freiburg als einziger Bundesstützpunkt Para Ski Nordisch auch die Heimatstadt des Bundestrainers. So sind hier bestmögliche personelle und strukturelle Rahmenbedingungen für die Athletinnen und Athleten gegeben sind, was sich nun am Erfolg der Athleten abzeichnet. Ich bin sehr froh, dass wir perfekte Bedingungen für erfolgreiche Nachwuchsarbeit haben.
Hostert: Ich würde sagen Baden-Württemberg hat hier einen gewissen Standortvorteil. Zum einen sind wir natürlich ein klassisches Wintersport-Bundesland. Zum anderen haben wir mit dem Bundesstützpunkt Para Ski nordisch am Notschrei auch sehr gute Trainingsbedingungen. Viele der Bundeskader-Athletinnen und -Athleten trainieren am Notschrei und werden dort von den Trainerinnen und Trainern optimal betreut. In den letzten Jahren hat man gute Arbeit, vor allem auch beim Nachwuchs, geleistet. Denn gerade unsere jungen Athletinnen und Athleten brachten Medaillen nach Hause. Ein tolles Beispiel ist die 15-jährige Linn Kazmaier, die bei ihren ersten Paralympics gleich fünf Medaillen gewonnen hat. Neben den zahlreichen Erfolgen im Langlauf und Biathlon glänzten vor allem auch unsere zwei Skifahrerinnen Anna-Lena Forsten und Andrea Rothfuss.
Nach Peking ist vor Turin. Wo sehen Sie trotz dieser schon positiven Entwicklungen im paralympischen Sport weitere Möglichkeiten der Verbesserung?
Hostert: Vor allem die mediale Aufmerksamkeit und Wertschätzung hat sich in den letzten Jahren im paralympischen Sport deutlich verbessert. Inzwischen kann man per Stream, wie bei den olympischen Spielen, fast alle Wettbewerbe live verfolgen. Dennoch ist die Berichterstattung ausbaufähig. Gerade in der Zeit zwischen den Paralympics wird wenig über den Behindertensport berichtet. Aber auch hier geht die Tendenz zum Glück nach oben. Ich würde mir außerdem wünschen, wenn sich die Gesellschaft noch mehr öffnen würde. Viele unserer Top-Athletinnen und -Athleten trainieren in inklusiven Trainingsgruppen. Hier ist das inzwischen Normalität. Aber vor allem im Anfänger- und Nachwuchsbereich gibt es leider immer wieder Hürden und Vorbehalte. Unser Ziel muss es sein diese Barrieren weiter abzubauen, sodass Kinder und Jugendliche, egal ob mit oder ohne Behinderung, zusammen Sport machen können und Spaß an Bewegung haben. Ich spreche hier bewusst sowohl von Barrieren in den Köpfen der Leute, die es teilweise leider immer noch gibt, als auch von baulichen Barrieren der Sportstätten.
Hirschmüller: Wir haben im paralympischen Sport generell in Deutschland ein Nachwuchsproblem. Dies ist unter anderem der erfreulichen Tatsache geschuldet, dass unser Land in den letzten 50 Jahren nicht mehr in kriegerische Auseinandersetzungen verwickelt war und dass Krankheiten viel früher erkannt und besser behandelt werden können. Da wir also ein Quantitätsproblem haben, müssen wir Kinder und Jugendliche mit Behinderungen für den Sport begeistern, um diese ggf. auch für Leistungssport gewinnen zu können. Wir versuchen die Zusammenarbeit mit Regelschulen zu verstärken, um Kinder mit Behinderungen, die inklusiv Sport treiben zu finden und ihnen Möglichkeiten aufzuzeigen, in paralympischen Sportarten erfolgreich werden zu können. Im Spitzensport arbeiten wir unter anderem an individuellen Lösungen bei der dualen Karriere.
Einige unserer sehr erfolgreichen Winterparasportlerinnen und -sportler sind mit einem Alter jenseits der 30 Jahre im letzten Drittel der Spitzensportkarriere angelangt, oder haben mit den Winterparalympics in Peking ihre aktive Karriere beendet. Wie ist es um den Nachwuchs im Parasport, insbesondere in den Wintersportarten bestellt?
Hostert: Wenn man sich die Ergebnisse aus Peking anschaut, dann würde ich behaupten sieht es sehr gut um den Nachwuchs aus. Vor allem die erst 15-jährige Linn Kazmaier hat eine sehr starke Leistung gezeigt. Ich denke, sie wird uns auch in den nächsten Jahren noch einige schöne Momente und Erfolge schenken. Aber sie ist nicht die Einzige, die bei diesen Paralympics in jungen Jahren auf sich aufmerksam machen konnte. Mit Leonie Walter und Marco Maier konnten zwei weitere Debütanten ihre ersten Erfolge auf großer Bühne feiern. Des Weiteren sind wir auch schon dabei, die übernächste Generation an Athletinnen und Athleten zu finden und auszubilden. Unsere Landestrainerinnen und Landestrainer für Baden-Württemberg leisten hier eine sehr gute Arbeit und haben auch schon die nächsten Talente im Blick.
Hirschmüller: Ja, das stimmt. Für die nächsten vier Jahre sehe ich noch kein Problem. Es haben auch sehr junge Athletinnen und Athleten Medaillen in Peking gewonnen. Dennoch muss die Nachwuchsförderung weiter ausgebaut werden. Seit 1. April wird dies nun unter anderem durch eine Vollzeitstelle „Landestrainer Para Ski Nordisch“ realisiert, der auch für die Nachwuchsgewinnung im Para Ski Nordisch und Para Ski Alpin zuständig ist. Bereits jetzt sind vier sogenannte „Talentscouts“ in Baden-Württemberg im Einsatz, um Kinder und Jugendliche mit einer Behinderung für den organisierten Sport zu gewinnen.
Jasmina Hostert ist Präsidentin des Württembergischen Behinderten- und Rehabilitationsverbandes. Anja Hirschmüller des Badischen Behinderten- und Rehabilitationssportverbands